Veröffentlicht in ND vom 20.11.2010
In meiner Hongkonger Apotheke schiebt mir Herr Wong, der nette chinesische Besitzer, augenzwinkernd ein Tütchen zu: »Open at home, try!« (»Zu Hause aufmachen, probieren!«) Was war’s? Chinesisches Viagra! Als Biochemiker hat mich das schon lange interessiert – eines der erfolgreichsten Medikamente der Geschichte. Hier eine Kurzfassung: Die Viagra-Saga begann 1985, als Simon Campbell und David Roberts bei der englischen Firma Pfizer nach Herz- und Bluthochdruck-Medikamenten suchten. Sie interessierten sich für Substanzen, die spezielle Enzyme hemmen, sogenannte Phosphodiesterasen (PDEs). Die sind bei der Blutdruckregulation wichtig. Einer der 1600 getesteten Wirkstoffe – Sildenafilcitrat – hemmte nicht alle PDEs, sondern vor allem die Form PDE-5. Pfizer startete 1991 klinische Studien mit Angina-pectoris-Patienten, denen der Wirkstoff allerdings nicht gut half.
Die Legende berichtet nun, dass sich die (männlichen) Probanden nach Abbruch der Studie weigerten, die restlichen Tabletten zurückzugeben. Ian Osterloh fand den Grund: eine unerwartete »Nebenwirkung«! Das Medikament führte zu Erektionen. Und eine erektile Dysfunktion zeigen immerhin 52 Prozent der Männer über 40. Folgerichtig startete Pfizer 1994 eine neue Studie mit Patienten, die unter erektiler Dysfunktion litten. 10 von 12 zeigten drastische Verbesserungen. 1998 wurde das bei Pfizer inzwischen Viagra getaufte Medikament zugelassen und in den ersten sechs Monaten vier Millionen Mal verschrieben …
Wie wirkt die blaue Pille nun? Ausmaß und Dauer einer Erektion hängen vom Blutzufluss und Abfluss in den Schwellkörpern des Penis ab. Sexuelle Stimulation führt zur Bildung des Botenstoffs Stickstoffmonoxid (NO) in den Blutgefäßen des Penis. In dessen Schwellkörpern wird zudem das Niveau des Botenstoffs cGMP erhöht. Der Blutzufluss nimmt zu. Doch der Botenstoff wird von dem Enzym PDE-5 wieder zerstört. Da Sildenafilcitrat PDE-5 hemmt, wird der Blutzufluss in das männliche Geschlechtsorgan gefördert, eine verstärkte Erektion ist das Ergebnis.
Allerdings berichten rund drei Prozent der Patienten von einer verschwommenen Sicht und bläulich-grüner Tönung des Gesichtsfeldes oder erhöhter Lichtsensibilität. Das rührt daher, dass Sildenafil auch auf das Enzym PDE-6 wirkt, das im Auge für die Farben Blau und Grün verantwortlich ist.
Soweit ganz lustig, doch nun wird’s gefährlich: Nitroglycerin, von Herzpatienten eingenommen, wirkt ebenfalls über die NO-Produktion und Viagra zweigt Blut vom gefährdeten Herzen ab! 120 deutsche männliche Urlauber starben allein in Thailand 2003 an der Kombination von Klima, Alter, Viagra, Sex und Herzproblemen …
Umgekehrt kann Viagra auch das Herz schützen – wenngleich nur bei Patienten, die an einer Muskeldystrophie vom Typ Duchenne leiden. Bei diesem erblichen Defekt ist anscheinend auch der Botenstoff cGMP beteiligt, dessen Abbau Viagra bremst. Tatsächlich fand ein US-Team um Joseph Beavo und Stanley Froehner von der University of Washington in Seattle heraus, dass Viagra bei Mäusen mit dieser Krankheit die fortschreitende Zerstörung des Herzmuskels aufhält (PNAS, DOI: 10.1073/pnas. 1013077107).
Neugierigen ND-Lesern sei noch verraten: Das mit den Farben stimmt tatsächlich!