Wer kennt Framingham?


 

Auf der Bundesstraße 9 von Boston aus westwärts: zersiedeltes Land, gesichtslose Orte, deren Namen man schon im Vorbeifahren wieder vergisst. Irgendwann Framingham. Plötzlich der Gedanke: Framingham!? Etwa das Framingham? Tatsächlich ist das der Ort, in dem 1948 die »Mutter aller Langzeituntersuchungen« in der Medizin, die Framingham-Studie, begonnen wurde. Etwa 5000 Einwohner des Städtchens wurden zunächst mühsam überzeugt teilzunehmen. Im Auftrag des US Public Health Service sollte die Studie den Ursachen der seit den 1930er Jahren stetig ansteigenden Zahl tödlicher Herzerkrankungen auf die Spur kommen. Heute, 65 Jahre später, ist die ganze Stadt stolz darauf, bereits in dritter Generation in diese medizinische Großtat einbezogen zu sein.»Framingham« ist eine epidemiologische Studie. Ihr Ziel: Faktoren erkennen, die Gesundheit und Erkrankungswahrscheinlichkeit der Bevölkerung beeinflussen können. Das ist anders als bei klinischen Untersuchungen, die auf bereits erforschten, kausalen Zusammenhängen fußen und untersuchen, wie wirksam und sicher eine Therapie ist. Noch in der Mitte des letzten Jahrhunderts glaubte man, Arterienverkalkung sei eine unvermeidliche Alterserscheinung und Bluthochdruck sei eine positiv zu bewertende Anpassung. In dieser Hinsicht haben die Framingham-Studie und die ihr folgenden Arbeiten die Prävention und Therapie von Herz-Kreislauf-Erkrankungen revolutioniert.Sie erst ermöglichten es, eine Vielzahl von Risikofaktoren zu erkennen. Dazu gehören erhöhter Blutdruck und hohes Cholesterin, Rauchen, Übergewicht, Bewegungsmangel und Diabetes mellitus. Viele dieser Faktoren sind durch Änderungen des Lebensstils oder entsprechende Behandlung beeinflussbar. Senkung des Blutdrucks oder des Cholesterinspiegels, aber auch die Einstellung des Blutzuckerspiegels gehören heute zur normalen medizinischen Praxis. Angesichts des überwältigenden Nutzens hat sich allerdings auch eine unkritische Haltung verbreitet, eine »Studiengläubigkeit«. Häufig werden die Möglichkeiten eines epidemiologischen Vergleichs gewaltig überschätzt. Der zeigt zunächst nämlich nur, dass ein untersuchter Faktor, zum Beispiel eine Ernährungsgewohnheit, mit dem Auftreten einer Krankheit zusammenhängen könnte, aber beweist keine ursächlichen Zusammenhänge. Es ist sogar möglich, dass sich die Aussagen unterschiedlicher Studien widersprechen, obwohl sie korrekt durchgeführt wurden.

Somit ist das Resultat einer epidemiologischen Studie gleich᠆zeitig Ausgangspunkt weiterer wissenschaftlicher Forschung – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Eines der nächsten Ziele des Framingham-Teams ist es nun, die Vererbung von Risikofaktoren für Herzerkrankungen zu untersuchen. Dazu wird die DNA langjährig eingefrorener Proben analysiert. So ist ein winziger amerikanischer Provinzort für immer in die Medizin-Geschichte eingegangen.

 

 

 

 


0 0 votes
Article Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments
0
Would love your thoughts, please comment.x